Nachdenken über Krieg und Frieden kann man aus den verschiedensten Perspektiven, in einer Vielzahl von Kontexten und auf die unterschiedlichsten Weisen. Kunst und Literatur sind Welten, in denen ein solches Nachdenken hervorragend funktioniert – und wenn sich beide Bereiche miteinander ins Gespräch bringen lassen, wie dies im Medium des Comics geschieht, dann sind tiefgründige Denkprozesse zu erwarten.
Im Rahmen eines deutsch-taiwanesischen Kooperationsprojektes ist in den vergangenen Jahren ein mehrbändiges Werk erschienen, das genau diesen Grenzbereich erforscht. Mit „Gesellschaft im Comic – Grafische Erzählungen zu Geschichte und Krieg“ liegt nun der 3. Band dieser Publikation vor, die die verschiedenen Darstellungsformen und Denkweisen über Krieg und Frieden im Comic analysiert und vorstellt.
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DAKS-Newsletter Juni 2019
INFORMATIONEN FÜR DIE MEDIEN
zum Sammelband:
Gesellschaft im Comic – Grafische Erzählungen zu Geschichte und Krieg
Eine Textsammlung von Heike Oldenburg und André Sven Maertens
Unter Mitarbeit von Chang, Pi-Yun
Mit Illustrationen von Walter Moers, 61Chi und Gerhard Mauch
Mit dem dritten Band der Reihe „Zeichnen und Erzählen“ schließen wir den Bogen und kommen zu grafischen Erzählungen über krisenhafte Geschehnisse in Gesellschaften und die damit zusammenhängenden militärischen bzw. militaristischen Denkweisen und Handlungen (erschienen waren zuvor „Krieg im Comic?“, 2017, und „Politik im Comic“, 2018). Es geht also in den Beiträgen um anscheinend normale Gesellschaft, um Krieg und um die sie verbindenden historischen Entwicklungen. Wie Heer und Reemtsma (1998) deutlich gezeigt haben, ist Krieg ein Gesellschaftszustand, nicht das Werk einiger weniger und ebenso kein Natureignis, Unfall oder gar Schicksal. Die „Krieger“ und ihre Helfer*innen kommen aus der Gesellschaft, (formen sie auch) und kehren später in sie zurück. Wie gehen sie mit dem erlebten oder selbst verübten Mord um? Das Leben, auch das Alltagsleben der Menschen, zu beobachten, ist daher zentral für das Verständnis davon, wie Krieg gemacht wird und welche Folgen die Kriegshandlungen haben. Die Bildgeschichte erweist sich – entgegen weiterhin bestehenden Zweifeln – als geeignetes Medium, um politisch gehaltvoll zu erzählen. So behandeln die hier vorliegenden kritischen Analysen die Frage, wie in der grafischen Literatur die sozialen Auswirkungen von kriegerischen Ereignissen und Verhaltensweisen gezeigt werden.
Wie bereits bei den beiden vorangegangenen Sammelbänden haben Menschen aus Deutschland und Taiwan die Beiträge verfasst – unter ihnen Expert*innen, Comiczeichner*innen und gesellschaftspolitische Aktivist*innen.
Gerhard Mauch, selbst Zeichner, bespricht eine „Graphic Novel“ zur Generationenproblematik und zur Umweltzerstörung. Außerdem bespricht er eine Serie über den Genozid an den Ureinwohnern Nordamerikas, den „First Americans“. Gerhards Mauchs neueste Bildgeschichte „Die Zeitreise – eine Comicdoku zur Geschichte des Fairen Handels“ wird vorgestellt. Heike Oldenburg widmet sich in zwei Beiträgen Comic-Werken zu den Lebensläufen von Frauen – erzählt wird hier von Gesellschaft und Krieg im Iran und im Libanon, ein weiterer Text befasst sich mit Franquins Kritik an sozialen und militaristischen Missständen. André Sven Maertens wirft in seinem Beitrag die Frage auf, wie Kriegskritik und „Helden“-Bilder in Weltkriegscomics europäischer Herkunft gestaltet werden und welche Schwierigkeiten dabei auftreten können. Kai Otto Chang geht in seinem Essay unter anderem darauf ein, wie in Moers Roman „Die Stadt der Träumenden Bücher“ Illustrationen und Text miteinander zu einer neuartigen Erzählweise verbunden werden. Die taiwanische Künstlerin 61Chi gibt im Interview Auskunft zu ihren Arbeiten, zur zeichnerischen Darstellung taiwanischen Großstadtlebens und zur Comic-Szene Taiwans. Abschließend werden Werke von 61Chi gezeigt (mit deutscher Übersetzung der Texte). Eine Liste mit weiteren Buchtipps (von Chang, Pi-Yun u. a.) ist angehängt.
► „Gesellschaft im Comic“ ist im April 2019 beim Verlag Books on Demand (Norderstedt) erschienen, hat 128 Seiten (Format 15,5 x 22 cm) und ist zum Preis von 6 Euro im Buchhandel erhältlich (ISBN 978-3-749453917). Herausgeber ist der Germanist André Sven Maertens.
Der Druck dieser Reihe wurde von der Freiburg Regionalgruppe der DFG-VK unterstützt.
Kontaktadresse für alle Fragen zu diesem Band und der Reihe sowie einige Impressionen von der Buch-präsentation am 22. Juni 2019 in der Wenzao-Universität in Kaoshiung (Taiwan) siehe bei Facebook: @politikimcomic
Mehr Informationen und Online-Bestellung unter:
https://www.bod.de/buchshop/gesellschaft-im-comic-andre-sven-maertens-9783749453917
● Als Leseprobe ein Auszug aus dem Beitrag von André Sven Maertens, der auf die Frage eingeht, wie unterschiedlich kriegerische Gewalt in Bildgeschichten und „Graphic Novels“ dargestellt wird – mal affirmativ, mal militärkritisch. Dieser Aufsatz befasst sich unter anderem mit Werken von Emmanuel Guibert, Hergé, Isabel Kreitz, Gregor M. Hoffmann und Jacques Tardi.
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Kriegskritik und „Helden“-Bilder in Comics europäischer Herkunft:
Fragen und Probleme
Krieg abzubilden, ist im Grunde ein Leichtes. Man zeigt Soldaten und ihre Schusswaffen in der Schlacht, wahlweise mit Panzern, Schiffen oder Flugzeugen, und schon wird den meisten Leser*innen klar, womit sie es zu tun haben und woraus Krieg anscheinend nur besteht: aus Waffen, Kampf und dem Tod „echter Kerle“. Und wenn man möchte, dass die Leute den Eindruck haben, dass man den Krieg kritisch sieht, lässt man die Soldaten (in den meisten Fällen ja Männer) von ihrem Elend und ihren Ängsten oder auch von Schuldgefühlen berichten oder zeigt solche Themen im Bild – hier unterscheidet sich Literatur wie Remarques berühmtester Roman kaum von Filmen wie „The Thin Red Line“ (Terrence Malicks verkürzender Verfilmung von James Jones‘ Roman aus dem Jahr 1962) oder eben von Kriegs-Bildgeschichten, beispielsweise Tardis Büchern zum Ersten Weltkrieg. Das Genre ist also fest umrissen und einige Elemente einer Kriegserzählung werden von den Lesern erwartet, wenn nicht sogar mit Nachdruck eingefordert.
Wie lässt sich diesem Stereotyp einer Kriegsschilderung entkommen? Comics bzw. Bildgeschichten bieten wie filmische Darstellungen keine langen Text-Blöcke, sondern etwas visuell Gestaltetes, bei dem wir eine spezifische Formsprache und jeweils eigene Bedeutung wahrnehmen: Bilder. Dies hat den Vorteil, dass die Kunstproduzierenden auf eindrückliche Weise zeigen können, wie das seelische Leiden und die physische Zerstörung im Krieg aussehen, fast immer verbunden mit einer Figurenerzählung, welche die Leser*innen mitnimmt in eine andere Welt. Und all das, ohne dass man den – heute oft als aufwändig angesehenen – Umweg einer Buchstaben-Fassung der vielleicht selben Geschichte gehen muss (man denke hierbei auch an Literaturadaptionen). Zeichnungen / Comics haben gegenüber Filmen zudem den Vorteil, dass die Zeichner*innen (fast immer in Zusammenarbeit mit den Texter*innen) so manchen digital erzeugten Spezialeffekt locker überbieten, denn was immer im Bild gezeigt werden soll, kann (einmal die Kunstfertigkeit vorausgesetzt) den Leser*innen auf dem Papier vor Augen geführt werden – das schaffen die Filmschaffenden ähnlich erst mit dem Trick der teuren CGI. (Ein Beispiel hierfür ist die von dem Belgier Marvano für den Vietnamkriegs- bzw. Science-Fiction-Roman „The Forever War“ von Joe Haldeman erschaffene Bildwelt, mit deren Magie auch ein vielleicht doch noch kommender Spielfilm von Ridley Scott nur schwer mithalten könnte.) Doch wo sich beide wieder begegnen: Es geht gar nicht immer um perfekte Mimesis. Sicher, das Gemeinte muss erkennbar sein, sonst geht im schlimmsten Fall aller Inhalt verloren, doch gerade das Aufbrechen und Aufzeigen der Realitätsnachahmung als ebensolche kann durchaus beabsichtigt und für die Erzählung hilfreich sein. Der „schöne“ Comic muss nicht immer der bessere sein. Zeichnungen sind in den meisten Fällen noch eher als künstliche Nachahmung der natürlichen Welt zu erkennen, als das bei einem Foto oder einem bewegten Bild der Fall ist. Bei dieser Erzählweise ist sofort auffällig, dass hier mit Absicht etwas künstlich Geschaffenes gezeigt wird, das als Bedeutungsträger fungiert. Und wenn es der Erzählinhalt erfordert, kann genau dadurch unser übliches Denken in Mustern, Stereotypen und Klischees aufgebrochen werden – für Geschichten über Anti-Militarismus, Tabuthemen wie Schuld, politischen Widerstand und Gesellschaftskritik bzw. -wandel gegebenenfalls entscheidend. Die sequenzielle Gestaltung von Bildgeschichten, also die Aufeinanderfolge von Bildern und die Möglichkeit einer freien künstlerischen Darstellung der Wirklichkeit, lässt einen Freiraum für die real gegebene Vielfältigkeit und die Erörterung komplexer moralischer Fragen, beispielsweise in einer Kriegssituation. Dies geht natürlich auch mit Prosa, mit Text, doch die Möglichkeiten einer grafischen Erzählweise ungenutzt zu lassen, wäre beinahe fahrlässig (noch dazu in einer immer visueller gestalteten globalen Kultur und Gesellschaft, man denke nur an die Verbreitung von Mangas weltweit). Setzen wir die beiden Medien Prosatext und Bildgeschichte nicht in Gegensatz. Für die politische Diskussion ist der gesellschaftskritische „Graphic Novel“, der Bild-Roman, eine Bereicherung und steht im deutschsprachigen Raum längst – so wie in anderen Gesellschaften, etwa Frankreich – als gleichwertige Kunstform neben Roman, Erzählung, Drama und Gedicht. Und das zu Recht, wie die Beispiele in diesem Sammelband zeigen. (Und wer von Goethe begeistert sein sollte, möge in Simon Schwartz‘ Einleitung zu seinem Buch über Rodolphe Töpffer Goethes Begeisterung über die neue Kunstform nachlesen.)
Den Vereinfachungen, Verharmlosungen und Beschönigungen, denen wir in so vielen Werken zum Kriegsthema begegnen, kann im Comic etwas entgegengesetzt werden. Allerdings wird dafür ein realistischer und das heißt meist ein kritischer Blick auf die gesellschaftlichen Handlungsweisen benötigt, eine Zeichnung, die ebendies vermag: das gewohnte Denken zu hinterfragen und neue Sichtweisen anzuregen. Was ist Krieg? Generalstab, Landkarte, Schlacht und Geschichtsbuch? Männer mit Waffen? Ja, das kann Krieg sein, doch in Wirklichkeit geht es um so viel mehr als um Generäle, „going over the top“ und Männer, die schießen, töten und sterben. Und selbst dann, wenn (Front-)Soldaten im Zentrum der Erzählung stehen, kann von ihnen mehr gezeigt werden als „heldenhafter“ Kampf und die mit Legenden verpackte „Männlichkeit und Tapferkeit im Angesicht des Feindes“, wie es in den Wild-West-Narrativen und Rittergeschichten-Konzepten vieler Kriegsromane und -filme dargestellt wird (Beispiele sind „Saving Private Ryan“ und „Enemy at the Gates“). Einige positive und negative Beispiele dieser „Helden“-Darstellungen und kriegskritischer grafischer Literatur sollen im Folgenden betrachtet werden.
[Abschnitt zu Hergé]
Tim bzw. Tintin kennen alle. Die journalistischen, feuilletonistischen, wissenschaftlichen und künstlerischen Texte und Bildgeschichten, die sich mit Hergés Werk befassen, sind so zahlreich, dass man tatsächlich Tintinolog*in werden müsste, um umfassend zu verstehen, was dieser Comic-Pionier und Meister der sequenziellen Kunst erschaffen hat: den Kosmos einer unendlich scheinenden Abenteuerwelt, die Propagierung der „ligne claire“ und die Möglichkeit, dass „Comic-Zeichner“ Bücher verkaufen und dadurch ein (künstlerisches) Leben haben können und nicht nur Wegwerfbilder für Zeitungen produzieren.
Ja, das ist jetzt verkürzt, sowohl was die Verdienste Hergés angeht. Aber ebenso verkürzt, was seine politischen Fehler und bleibenden historischen Verantwortlichkeiten betrifft: etwa Chauvinismus („Tim im Lande der Sowjets“), Rassismus („Tim im Kongo“), Antisemitismus („Der geheimnisvolle Stern“) und die Kollaboration während der Besetzung Belgiens durch NS-Deutschland. Auch über Antiziganismus in Hergés Geschichten wird diskutiert (siehe Dolle-Weinkauff 2000). Doch insgesamt müssen seine fantastische Bilderwelt, seine Erzählweise und sein Zeichenstil etwas Einzigartiges haben, dass uns weiterhin fasziniert. So reißt das Gespräch über dieses Gesamtwerk nicht ab (siehe auch die national-kulturelle Vermarktung im 2009 eigens erbauten Musée Hergé in Louvain-la-Neuve, Belgien) und ebenso wenig die Beschäftigung mit „Tim und Struppi“ (neben anderen Reihen wie „Quick et Flupke, gamins de Bruxelles“ und „Les Aventures de Jo, Zette et Jocko“). Meine Überlegungen sind nur ein Teil dieser Diskussionen.
Tim schießt. Immer wieder und mit viel Erfahrung. Wie kommt es, dass ein Reporter so sicher und trickreich mit Handfeuerwaffen umgehen kann? Wenn man sich die Tim-Alben ansieht, wird von Beginn an viel gekämpft, geprügelt und eben auch geschossen. Schaut man genau hin, lässt sich in der Heftreihe (deren Entstehungszeit ja immerhin fast 60 Jahre umspannt) beinahe die Geschichte der Schusswaffenentwicklung nachverfolgen: Wenn in „Tim im Lande der Sowjets“ noch mit den damaligen wassergekühlten Maschinengewehren geschossen wird, sind einige Episoden später (etwa in „Die Zigarren des Pharao“) bereits frühe Maschinenpistolen und fortentwickelte schwere Maschinenwaffen zu sehen. Und während Hergé bei einigen Technikneuheiten wie Haifisch-Ein-Mann-U-Booten oder auch außerirdischen Raumfahrzeugen und der „Alpha-Kunst“ (zusätzlich zu intensiver Recherche) einige Fantasie entwickelt, bleibt er (nicht nur) bei den Waffenabbildungen auf der technisch korrekten und geschichtlich akkuraten Seite, Beispiele sind die Panzer in „Der Fall Bienlein“. Am Ende dieser Reise durch die Waffengeschichte stehen die modernen Handfeuerwaffen, die beispielsweise in „Flug 714 nach Sydney“ abgebildet sind. Unrealistische Darstellungen sind Hergés Sache spätestens seit seinem Ägypten-Abenteuer nicht mehr, gut zu sehen auch an den Änderungen des Aussehens von Flugzeugen, Autos und Zügen, die im Laufe der Neubearbeitungen bzw. Modernisierungen der Heftreihe vorgenommen wurden. (Hier darf die scheußliche bis unverständlich zu nennende Nachahmung der „V2“-Raketen, mit denen Soldaten der faschistischen Wehrmacht Menschen in Belgien, Frankreich, Großbritannien und den Niederlanden beschossen hatten, nicht vergessen werden. Der Ursprung von Hergés Raketendesign wird sogar ganz direkt in „Der Fall Bienlein“ angesprochen, wenn die originale Broschüre von Leslie E. Simon über diese NS-Waffenentwicklungen gezeigt wird. Allerdings wurde im Comic das Hakenkreuz von Simons Titelbild genommen, was aus rechtlichen Gründen geschehen sein kann oder weil Hergé nicht gern an seine Unterstützung des deutschen Faschismus erinnert werden wollte.) Bisheriges Fazit: Wenn in „Tim und Struppi“ geschossen wird, dann stimmt die Historie und es gibt eine glaubhafte Darstellung der Waffen.
Nun stellt sich die Frage, wozu die Darstellung von Gewalt in diesen Geschichten dient. Sicherlich, es sind Abenteuergeschichten, da geht es nicht ohne Kampf und Waffeneinsatz ab. Das Genre fordert, dass Tim „Schurken ausschaltet“, sich zu wehren weiß und auch mal richtig zuschlagen kann bzw. weiß, wie man mit Pistolen, Gewehren und automatischen Waffen umgeht. Aber wozu? Abenteuererzählungen sind Geschichten über Männer mit Mut und Tatkraft, Männer, die sich in der „harten“ Welt durchzusetzen wissen und dadurch den (meist) kindlichen und jugendlichen Lesern das Gefühl von Stärke und Sicherheit geben, und deren Geschichten natürlich auch Spaß an eben diesen zu bestehenden Abenteuern zu wecken beabsichtigen. Jedoch kann man nicht zurückweisen, dass die Leser sich in der realen Welt bewegen und dort eben genau diese Waffen und ihre traurige Anwendung beobachten und erleben. Übertrieben gestaltete Zweihänder von Fantasy-Helden oder Lichtschwerter aus Space-Opera-Erzählungen wie „Star Wars“ haben wohl einen ähnlichen Effekt, aber dort ist (hoffentlich) den Lesern von vornherein klar, dass es (neben Troststiftung) um pure Unterhaltung gehen soll. Nicht so bei Hergé: Sein „Held“ schießt in der Wirklichkeit und wird dabei als der „Gute“ dargestellt bzw. wahrgenommen. Ein Held, dem – zumindest in der jugendlichen Fantasie – nachgeeifert wird. Und so vermittelt „Tim und Struppi“ die Botschaft, dass tödliche Gewalt mit Humor gepaart werden darf (auch die Explosionen von Artilleriegranaten sind für die Getroffenen lediglich etwas Lustiges). Ein Abenteurer bzw. selbsternannter Hilfspolizist darf und muss also mit Waffen üben (obwohl wir das in Hergés Geschichten nie sehen –„Tim auf dem Schießstand“?) und er muss bereit sein, andere Menschen mit Schusswaffen zu verletzen oder gar zu töten. In vielen Situationen wirkt der „junge Reporter“ eher wie ein pubertäres Überbleibsel aus Hergés Pfadfinder-Zeiten und scheint sich selbst als eine Art Veteranen-Soldaten zu sehen: So fliegt Tim wie selbstverständlich Kampfflugzeuge, wirft Handgranaten, schießt scharf, kennt sich mit Panzern aus, kennt Dschungelkampf-Tricks und ruft quasi fachmännisch (oder söldnermäßig?) „Touché“, als er (mit einer Kalaschnikow!) ein vorbeisausendes Flugzeug getroffen hat. Und er verbindet dies alles – als wäre das ganz normal – mit dem ruhigen Leben eines höflichen, wissbegierigen und auf natürliche Weise rechtschaffenen jungen Mannes. Man fragt sich, durch welche Schule Journalisten früher gehen mussten bzw. welche Erwartungen damalige (und heutige) Leser an Abenteuerhelden hatten. Was wollen wir (im Abenteuer- und Kriegsgenre) sehen? Harry Potter als einfühlsamen Konflikt-Mediator zwischen Voldemort und Dumbledore oder eher einen um sich fechtenden und meuchelnden Aragorn, der die Welt mit seiner „Manneskraft“ vor dem Bösen rettet? Körperliche bzw. militärische Gewalt und Waffen sind ein Attraktionspunkt und das wusste auch Hergé. Nicht alles, was Tim und seine Freunde und Feinde erleben und überleben, sind Gewalthandlungen. Und Tim schießt nicht mit sadistischen oder mit Mordgedanken, er bewahrt (fast) immer Maß. Doch was am Ende bleibt, ist eine schleichende Verharmlosung von Waffengewalt und die Überzeugung, dass (Schuss-)Waffen ein sinnvoller oder vielleicht sogar schöner Teil unseres Lebens sind bzw. sein sollten. (Und das ist eigentlich NRA-Gedankengut.)
Doch sind wir nicht alle Waffenfanatiker geworden, auch wenn wir „Tim und Struppi“ gelesen haben, da wären andere Medien und gesellschaftliche Praktiken viel eher eine Diskussion wert – etwa Kriegsfilme und -romane, Killerspiele, Ausbildung an Schusswaffen (beispielsweise in der Bundeswehr) und eine fehlende Aufarbeitung der Verbrechen der NS-Zeit, vor allem für die Generation der Weltkriegskinder. Fruchtbar für die fortgesetzte Hergé-Rezeption ist jedoch die Frage, welchen Einfluss diese Comic-Serie auf nachfolgende Künstler*innen hatte und wie diese mit seiner Hinterlassenschaft umgehen. Bei den beiden hier vorgestellten Künstlern handelt es sich um Autoren bzw. Illustratoren mit einer sehr eigenen Zeichentechnik und Darstellungsweise, kraftvoll, ins Auge springend und provokativ im ersten Fall, im zweiten jedoch nicht weniger beeindruckend und die menschlichen Schwächen und Maskeraden durch einen vagen und sympathieweckenden Zeichenstil auf eine leise Weise entlarvend. Interessanterweise gibt es bei beiden Zeichnern einen Afrika-Kontext (man könnte sich ja z. B. auch Tims Abenteuererlebnisse während der japanischen Aggression in China anschauen und deren stereotypische oder sozialkritische Aspekte untersuchen).
Der 1967 geborene Südafrikaner Anton Kannemeyer beispielsweise nimmt in „Papa in Afrika“ (2014 bei avant auf Deutsch erschienen) das Motiv von Tims Schießwut auf und deutet sie als rassistische Denkweise und brutale Behandlung bzw. Bestrafung der afrikanischen Ureinwohner*innen: In einer kurzen Bildgeschichte von Kannemeyer wird eine Episode aus Hergés Afrika-Band dadurch persifliert, dass Tim (bzw. eine deutlich als Tim zu erkennende Figur) in einer sehr ähnlichen Szenerie nicht Antilopen, sondern Menschen mit schwarzer Hautfarbe „abknallt“, ohne Stopp und ohne Menschlichkeit – und ihnen hernach wie erlegtem Wild ganz selbstverständlich Körperteile, hier die Hände, abschneidet (siehe dort S. 10-11). Diese Morde sind in ähnlicher Weise wirklich geschehen bei Kolonisierungen und Eroberungen durch Europäer (nicht nur in Afrika), hier bei Kannemeyer sind sie dementsprechend Hinweis auf eine paternalistische bis rassistische Ideologie und auf die Verachtung angeblich „niederer Rassen“. In anderen die Figur Tim zynisch modifizierenden Geschichten oder Einzelbildern wird noch mehr von dem aufgedeckt und zur Diskussion gestellt, was der junge Georges Prosper Remi in seiner konservativ-katholischen Kindheit und am Karriereanfang von dem rassistisch denkenden Abt und Journalisten Norbert Wallez über die Welt erzählt bekommen hatte. Das alles mag dem späteren Autor Hergé als kein großes Vergehen gelten, war doch (angeblich) die ganze damalige (belgische und europäische) Gesellschaft von diesem Kolonial-Denken überzeugt – Rassismus war und bleibt es doch.
Ähnliche intertextuelle Kommentare zu Hergés Werk sehen wir bei Joann Sfar: In seiner seit 2002 laufenden Graphic-Novel-Serie „Die Katze des Rabbiners“ lässt der 1971 geborene französische Medien-schaffende und Comic-Zeichner (u. a. beteiligt an der Fantasy-Parodie „Donjon“) die Leser*innen die skurrile Geschichte von einer Katze miterleben, die sprechen kann, weil sie einen Papagei gefressen hat, und die in der Folge mit ihrem Herrchen, einem Rabbiner im Algier der 1930er Jahre, philosophische Dialoge über die jüdische Religion und über gesellschaftliche Ethik führt. In den späteren Bänden entwickelt sich die Handlung so weiter, dass eine Gruppe um den Rabbiner vom Maghreb aus ins zentrale Afrika reist, um eine sagenhafte Stadt mit dem Namen „Jerusalem“ zu finden (siehe auch McKinney 2011), und während die Gruppe gerade im belgischen Kongo unterwegs ist, trifft sie dann (im Band „Jérusalem d’Afrique“) überraschend auf die Figur eines „jungen Reporters“ (der unmissverständlich Hergés Tim darstellt). Dieser verhält sich überheblich und besserwisserisch, ist mehr als eingebildet, belehrt die anderen mit seinen „Weisheiten“, als seien sie im Vergleich zu ihm unwissende Kinder, und er schießt auf alle Tiere, die sich in der Nähe der Gruppe befinden – auch sein Hund wird als „Idiot“ geschildert. Am Ende des kurzen Treffens (nach einer Seite mit sechs zugespitzt und unterhaltsam erzählten Panels) ist die Gruppe froh, „Tim“ wieder los zu sein, der in eine andere Richtung weiterreist.
Man fragt sich, wozu Sfar dieses Literaturzitat in seine Bildgeschichte aufgenommen hat und wie die negative Deutung der Figur entsteht. Es geht um Kritik an einer (weitverbreiteten) Haltung. Dazu muss man sich bewusst machen, dass sich die gesamte Reihe um das Thema Humanität dreht, d. h. es geht stets darum, wie die Menschen lernen könnten, einander besser zu verstehen, und um die Idee bzw. Hoffnung, dass die unterschiedlichen Kulturen – bei allen dabei auftretenden Schwierigkeiten – ihre Unterschiede nicht als trennende begreifen und ihre wichtigen menschlichen Gemeinsamkeiten erkennen sollten. In Sfars Geschichte geht es konkret um die Koexistenz von arabischer und jüdischer Kultur in jener Zeit. Eine Figur, wie diese Autor sie in „Tim“ sieht, passt nicht in diese Weltsicht, denn der angeblich an Wissen so reiche und aufgrund seiner europäischen (und katholischen?) Überlegenheit so dominant auftretende „Missionar“ verhält sich im Gegenteil brutal gegenüber anderen Menschen (und Tieren). Gerade er ist nicht zivilisiert, wenn er dessen auch selbst so sicher ist, er verkörpert nicht die aufgeklärte Lebensweise, die in Sfars Reihe zu spüren ist: Tim wird als Gewaltmensch interpretiert. Spannende Deutung!
Man mag einwenden, dass sich Haltung und Ansichten von Hergés Figur seit seinen ersten Alben und nach der offensichtlichen Arbeit für das NS-Regime gewandelt und verbessert haben. Das ließe sich wohl behaupten. Doch dass der schießwütige und mindestens euro-zentristisch und chauvinistisch agierende Tim in den Werken von Kannemeyer und Sfar so schlecht wegkommt, ist erst einmal politisch wichtig.
Eine kurze Anmerkung sei jedoch gemacht, um neben allem anderen Hergés Willen zur Gesellschafts- und Wirtschaftskritik zu zeigen: In dem Band „Der Arumbaya-Fetisch“ porträtiert er den berühmten Waffenhändler Basil Zaharoff, der ab den frühen Balkankonflikten und bis nach dem Ersten Weltkrieg seine Taten beging (u. a. durch den Export von Maxim-Maschinengewehren) und auch schon mal beide Seiten eines Konflikts belieferte (vgl. Farr 2006, S. 62). Seine Firma heißt in der englischsprachigen Version „Korrupt Arms GmbH“ – ein Hinweis auf Zaharoffs Beteiligung an Krupp? (In anderen Versionen, auch der deutschsprachigen, wurde mit „Vicking Arms“ ein Name gewählt, der auf den Vickers-MG-Produzenten deutet, für den Zaharoff ebenfalls Schusswaffen verkaufte.) Dieser Waffenhändler fliegt durch die Welt und verkauft Kanonen und Geschosse, hier an die fiktiven Staaten San Theodoros und Nuevo Rico. Gemeint sind Bolivien und Paraguay, die in den 1930er Jahren beinahe 100.000 Menschen ihrer Bevölkerung im Interesse von Großkonzernen „auf dem Altar des Vaterlandes opferten“. Hergés Erzählung weist auf die Interessen der Ölfirmen (in der Realität „Standard Oil of New Jersey“, später „Exxon Mobil Corporation“, und „Royal Dutch Shell“) als wichtigen Konflikthintergrund und auf die Machenschaften der Waffendealer explizit hin. Immerhin dies!
[Schlussabschnitt]
Krieg ist, um das Wort von Reemtsma und Heer noch einmal aufzugreifen, ein Zustand, in dem sich eine Gesellschaft befindet: Es mag einen Ludendorff, einen Himmler, einen Karadžić oder auch einen Hideki als militärisch, juristisch oder politisch Verantwortlichen geben – dies darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Gesellschaft, d. h. die große Mehrheit der Bevölkerung, die von diesen Verbrechern begangenen Massenmorde und Gräueltaten (die von mir im Falle dieser vier Männer keinesfalls gleichgesetzt werden!) gutheißt oder zumindest akzeptieren konnte bzw. heute noch kann. So könnte man mit Hannes Heer (2005) sagen: Es war eben nicht nur Hitler. Krieg – und auch Faschismus, das zeigt sich deutlich in der deutschen und japanischen Geschichte (und Gegenwart) – sind gesellschaftlich entwickelte Handlungsweisen (siehe Theweleits Studie zum Verhalten bewaffneter Männergruppen, 1977-1978). Wenn sie sozial geduldet bzw. sogar mit Anerkennung belohnt werden, bedürfen diese Verhaltensweisen nicht einmal der Verrohung bzw. Brutalisierung, um ausgeübt zu werden, zu sehen an den Untersuchungen der Gedankenwelt von Wehrmachtspiloten, die bereits zu Beginn des Krieges interviewt wurden (siehe Neitzel / Welzer 2011) und auch zu beobachten an der „Banalität des Bösen“ der Verbrecher, die in den Vernichtungslagern arbeiteten und offensichtlich ohne Gewissensqualen Tausende, Zehntausende und Millionen Menschen ermordeten (Anfang der 1960er Jahre von Hannah Arendt untersucht).
Diese Denk- und Verhaltensweisen nicht kritisch (und kreativ) zu beleuchten, sondern lediglich den „Front-Helden“ oder gar „begeisternde“ Schlachtszenen zu zeigen, ist eine problematische, weil gefährliche Verharmlosung der (von der Bevölkerung unterstützten oder gar selbst) allerorts verübten Verbrechen des damaligen deutschen (Kriegs-)Faschismus (und seiner ähnlichen Formen andernorts), der gerade in Zeiten der heute neu erstarkenden Rechten und Neonazis und des bereits stattfindenden Verschwindens der Zeitzeugen-Generation bzw. der überlebenden Opfer nicht akzeptiert werden kann. So ist es sehr zu begrüßen, dass neben kritischen Prosatexten ebenso weiterhin politisch wache Bildgeschichten erscheinen, die auf differenzierte und engagierte Weise mit dem Thema Krieg, Militarismus und Faschismus umgehen und die Gesellschaft, d. h. die einzelnen Menschen (im gegebenen Fall wir selbst), nicht aus ihrer Verantwortung entlassen. Ohne an dieser Stelle die notwendige Faschismus- und Militarismusanalyse auf gefährliche Weise zu verkürzen und nur auf die unteren Schichten bzw. den sprichwörtlichen „kleinen Mann“ zu schauen (Stichwörter sind u. a. Militarismus-Kontinuität, faschistische Gruppierungen, Militär-Elite, Großkapital und Banken-Politik, Rüstungsindustrie, (Klein-)Bürgertum, Antisemitismus-„Tradition“, Kompromisse der Kirchenoberhäupter, Pläne des Diktators Stalin), müssen wir doch die individuelle ethische Pflicht zu humanem und widerständigem Handeln im Bewusstsein behalten und sie bei der politischen Entscheidungsfindung berücksichtigen: In Brechts Gedicht vom lesenden Arbeiter ist es eben nicht Cäsar allein, der Gallien (brutal) erobert, sondern mit ihm alle, die ihn begleiten – auch sie tragen Schuld.
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Weitere Angaben zu den besprochenen Werken:
Anton Kannemeyer: Papa in Afrika. Berlin: avant 2014, Übersetzung ins Deutsche von Mathias-Emanuel Hartmann. (Die Originalausgabe erschien als „Pappa in Afrika“ 2010 bei Jacana in Johannesburg.)
Joann Sfar: Die Katze des Rabbiners. 2014 und 2015 bei avant (Berlin) als Sammelbände erschienen. Von David Permantier ins Deutsche übersetzt.
Verzeichnis zitierter Forschungsliteratur:
Bernd Dolle-Weinkauff: Von zierlichen Zigeunerinnen und Roma-Rambos – Beobachtungen zum Zigeunerbild im zeitgenössischen Comic. In: Anita Awosusi (Hg.): Zigeunerbilder in der Kinder- und Jugendliteratur. Heidelberg: Das Wunderhorn 2000, S. 97-116.
Michael Farr: Auf den Spuren von Tim und Struppi. Aus dem Französischen von Dirk Naguschewski und Marcel Le Comte. Hamburg: Carlsen 2006. – Ähnlich (apologetisch): Michel Daubert: Musée Hergé. Éditions De La Matiniere / Éditions Moulinsart 2013.
Hamburger Institut für Sozialforschung (Hg): Krieg ist ein Gesellschaftszustand. Reden zur Eröffnung der Ausstellung „Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944“. Hamburg: Hamburger Edition 1998. (Vorbemerkung von Hannes Heer, S. 7; Vortrag von Jan Philipp Reemtsma 1995 auf Kampnagel K3, Hamburg, S. 8-13)
Hannes Heer: Hitler war´s. Die Befreiung der Deutschen von ihrer Vergangenheit. Berlin: Aufbau 2008. (Die gebundene Ausgabe war 2005 erschienen.)
Mark McKinney befasst sich in seiner Studie „The colonial heritage of French Comics“ u. a. mit den Themen Kolonialismus, Imperialismus und Rassismus, z. B. in der Serie „Zig et Puce“ von Alain Saint-Ogan (Liverpool University Press 2011). Im Kapitel „Rescripting the Croisière noire with critical nostalgia: Jérusalem d´Afrique“ geht er auch auf Sfars Erzählung ein und beschreibt Tim als „verbose, patronizing […] and brutal to wild animals“ (S. 153).
Sönke Neitzel / Harald Welzer: Soldaten. Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben. Frankfurt: S. Fischer 2011. (siehe die Unterkapitel „Abschießen“ und „Autotelische Gewalt“ S. 83-94)